Unsere Geschichte قصتنا

Es begann in Baden-Baden

2015 kamen auch in der verschlafenen Kurstadt die ersten Flüchtlinge aus Syrien an. „Die armen, armen Menschen“, sagte meine Stiefmutter am Weihnachtstisch. „Na dann tu doch was!“, dachte ich. Sie tat etwas, sie unterrichtete eine Zeitlang ein Flüchtlingskind. Meine Stiefmutter ist Lehrerin. Ich bin Schriftstellerin. Ich wollte auch etwas tun. Ein Musikerfreund hatte mir erzählt, dass er ein Programm entwickelt mit den Gedichten des Mystikers Rumi, und in der Stadtbibliothek Baden-Baden hatte ich ein Buch entdeckt mit Rumi-Gedichten in zwei Sprachen, in dieser wunderschönen Schrift mit den Schwingungen und Pünktchen und auf deutsch übersetzt. Ich lieh das Buch aus. Dann merkte ich: Das ist persisch, eine andere Sprache, bloß die gleiche Schrift. Ich hatte es nicht gewusst.

Auf der Suche nach zweisprachigen Gedichtbänden

Ich konnte jetzt aber nicht mehr zurück, wenngleich der Plan, einfach mal das Buch auszuleihen, ein paar schöne Gedichte herauszupicken und die dann in zwei Sprachen auf der Bühne vorzutragen, so nicht mehr funktionierte, zumindest nicht für die Flüchtlinge aus Syrien. Meine Freundin Angelika Schindler hatte den Kontakt hergestellt zu einer Familie mit sieben Kindern, eine der Töchter hatte zwei Semester hocharabisch studiert. Die Familie war sehr traditionell, die Mädchen trugen außerhalb der Wohnung Kopftuch und, wie ich später erst erfuhr, behielten den Mantel an. Die Hocharabisch-Studentin war mit einem Schauspieler verlobt, sie hatte Lust, Gedichte auf der Bühne zu präsentieren. Ich habe ihren Namen vergessen, aber ich sehe ihr Gesicht noch vor mir, ihre großen schwarzbraunen Augen, die Angst darin vor jeder neuen Begegnung und die Offenheit und Erleichterung, wenn sie spürte, dass ihr Gegenüber ihr wohl wollte.

Entdeckung neben dem Gästebett

In der Bibliothek der Freien Universität Berlin suchte ich nach passenden Gedichten, nach Bänden in zwei Sprachen, ich übernachtete dafür bei meiner Mutter in Berlin-Schöneberg. Der Übersetzer Stefan Weidner schickte mir per Mail die arabischen Original-PDFs von Ibn-Arabi. Angelika Schindler gab mir ein Buch mit dem Titel „Versschmuggel“, ein Projekt des Literaturhauses Berlin, poetisches Ergebnis des Treffens arabischer und deutscher DichterINNEN. Den größten Fund jedoch machte ich in der Wohnung meiner Tochter in Hamburg: Ihre damalige Mitbewohnerin hatte sich in einen syrischen Flüchtling verliebt, von ihrem Nachttisch entlieh ich ein Büchlein mit arabischen Liebesgedichten nebst englischer Übersetzung. Die passendsten übertrug ich vom Englischen ins Deutsche, stets zweifelnd, ob sie diese Sprachreise wohl heil überstanden hätten: Ich kannte niemanden, der in beiden Sprachen, im Arabischen wie im Deutschen, zuhause war und dies beurteilen könnte.

OudistIN gesucht, dringend, jetzt

Noch fehlte Musik für mein Programm. Eine Oud brauchte ich, eine arabische Laute, aber woher die oder den InstrumentalistIN nehmen? Ich kann gar nicht erzählen, wie ich zufällig unter hunderten von dpa-Meldungen an jenem Tag auf eine Meldung stieß, in der von einem Oud-Lehrer an der Pop-Akademie Mannheim die Rede war, von einem neu eingerichteten Studiengang „Weltmusik“. Wie der Pressesprecher der Pop-Akademie mir sagte, dass genau an jenem Tag, da ich ohnehin von Saarbrücken nach Baden-Baden reiste, ein Konzert stattfinde, bei dem ich den Oud-Lehrer und seine Studenten treffen könne. Damals fühlte ich mich von Engeln geleitet, denn so viel glückliche Zufälle kann es doch gar nicht geben ohne einen höheren Plan? Jedenfalls begegnete ich dem Oudisten Hesham Hamra. Hesham war gerade erst in Mannheim angekommen, er versteckte sein Gesicht unter einer Basecap, er sprach kaum deutsch. Als sein „Adjutant“ half ihm der ältere, erfahrenere Amjad Sukar, klein und wendig, mit allen Trommeln und Rhythmen dieser Welt vertraut. Beide köderte ich mit der Aussicht auf ein Trio: Der Pianist Julian Schönberger arbeitete damals beim Südwestrundfunk in Baden-Baden, heute studiert er Philosophie in Wien. Nun war unsere kleine Truppe komplett, die Frauen waren zuständig für die Texte, die Männer für die Melodien.

Die Anziehungskraft des Exotischen in der Provinz

Die Aufführung am 13. Januar 2017 im Gemeindesaal der Stadtkirche Baden-Baden war ein unerwarteter Erfolg. Viele hatten daran mitgewirkt, die Pfarrerin, die einen Hinweis auf die Veranstaltung in die Weihnachts-Gottesdienste und den Gemeindebrief aufgenommen hatte, die Deutsche Bahn, die uns für Proben und Aufführung zwischen Mannheim und Baden-Baden hin- und her transportiert hatte. Der Gemeindesaal war für 80 Menschen bestuhlt, aber das genügte nicht, es wurden Stühle nachgeholt, und viele Zuschauer standen anderthalb Stunden lang, nur um dem zu lauschen, was wir da boten. In einer großen Vase sammelten wir 600,-€ an Spenden, so hatte ich das Honorar für Hesham und Amjad und die Fahrtkosten wieder heraus. Wir feierten die ganze Nacht. Eine Woche später fuhr ich meinen Umzugswagen von Baden-Baden nach Berlin, die Wohnungsauflösung war beschlossene Sache. „Elske, warum gehst du nach Berlin?“, fragte Hesham am Telefon. Ich antwortete: „Ich konnte doch nicht ahnen, dass ich dir begegnen würde.“ Hesham und ich haben nie wieder gemeinsam auf einer Bühne gestanden. Als ich für den 19. und 20. März 2020 neue gemeinsame Auftritte organisiert hatte in Ludwigshafen und Heidelberg, kam der Lockdown. Auch da telefonierten wir. Ich wollte es nicht wahrhaben, ich schrie in den Telefonhörer: „Selbst wenn alle dicht machen, wir werden spielen!“ – „Elske!“ Heshams Stimme war ruhig und resigniert. „Elske. Ich habe gestern in der Garderobe der Oper in Frankfurt gesessen, als die Managerin zu uns hereinkam und sagte, das Konzert sei abgesagt. Anderthalb Stunden vor unserem Auftritt. Glaub mir, wir werden nicht spielen.“ Wir spielten nicht. Ich sagte dem Fotografen ab, dem Videoregisseur, meinem AirBnB-Gastgeber. Das Wiederauftritts-Kleid, das Anna Cafetzakis mir genäht hatte, hängte ich in den Schrank. Es überwinterte gemeinsam mit meinen Träumen von einer Tour durch kleinere Orte in Deutschland. Provinzstädtchen wie Baden-Baden, wo wir erneut einen Gemeindesaal füllen könnten oder womöglich sogar ein kleineres Theater uns einlassen würde. In Berlin hatte ich mit Bassam Dawood den idealen Bühnenpartner gefunden: Wenn Bassam arabisch spricht, schmelze ich dahin, obwohl oder weil ich kein Wort verstehe.

Weiter wachsen

Die Musiker haben mehrmals gewechselt, die Gedichte sind geblieben, und jetzt, da Bassam und ich sie gemeinsam betreuen, wachsen sie weiter. Es ist viel passiert in Deutschland seit 2015, es gibt deutlich mehr zweisprachig verlegte arabische Lyrik und wunderbare Projekte wie „Weiterschreiben“ des Literaturhauses München. Die Dichterinnen, deren Verse wir in das Programm aufgenommen haben, kennt Bassam persönlich, kannte er schon in Damaskus. Wir sind in Berlin in den Interkulturanstalten aufgetreten, in der Mainzer 7, im Lawrence, in der Apostel-Paulus-Kirche in Schöneberg, aber bislang haben wir weder Fadhil al-Azzawi noch Widad Nabi bei einem Auftritt begrüßen dürfen. Weiterleben, Weiterschreiben, Weitermachen. Wie weiter jetzt. Aber was bleibt, ist die Liebe zur Poesie.